Jan Rijken, Learning Director bei Wiley-CrossKnowledge, Gastprofessor an der IE Business School und ehemaliger Chief Learning Officer bei KPMG, ABN-AMRO und Mercedes-Benz.
Die Pandemie hat uns alle hart getroffen, sowohl privat als auch beruflich. Manche Regierungen haben das öffentliche Leben heruntergefahren. Der Lockdown ist für uns, unsere Familien, wie auch für die Unternehmen, eine schwierige Erfahrung. Die Umstellung auf Home-Office war für viele die einzige Möglichkeit, weiterhin ihrer Arbeit nachzugehen. Trotz der zahlreichen Hürden, die wir meistern mussten, brachte dies auch Vorteile: kein Pendeln zur Arbeit, Selbstbestimmung des Arbeitstempos und effizientere Meetings per Video- oder Telefonkonferenz.
Die ersten Erkenntnisse aus diesen turbulenten Zeiten lassen folgende Schlüsse zu:
- Die Krise treibt den digitalen Wandel voran.
- Wir können zum Erfolg des digitalen Arbeitsplatzes selbst beitragen.
- Reisen und Veranstaltungen sind wohl auf längere Zeit nur eingeschränkt möglich oder müssen vorerst verschoben werden.
- Online-Meetings sind zwar nicht so persönlich wie echte Begegnungen, gewähren uns dafür Einblick in das Privatleben der Menschen, mit denen wir zu tun haben.
Die gegenwärtige Situation beeinflusst nicht nur wie wir leben, arbeiten oder interagieren, sondern auch die Art und Weise wie wir lernen, hat sich durch die Krise verändert. Jetzt, da Mitarbeiter von zu Hause auf Lernlösungen zugreifen (müssen), hat das digitale Lernen Präsenzschulungen so gut wie abgelöst. Dadurch wird Digital Learning zu einem größeren und wichtigeren Bestandteil des digitalen Lernangebots von Unternehmen. Unterstützt wird das durch Initiativen führender Unternehmen wie Novartis, die Eltern Inhalte für das Lernen zu Hause zur Verfügung stellen.
Kurzfristige Auswirkungen auf L&D
Seit März, als die L&D-Teams von einem Tag auf den anderen gezwungen waren, von zu Hause aus zu arbeiten, befindet sich L&D im Kriseneinsatzmodus. Wir haben uns mit drei Fragen an unser Netzwerk von L&D-Managern gewandt, um die Stimmung auszuloten und herauszufinden, wo gegenwärtig die Schwerpunkte liegen. Die erste Frage bezog sich auf den aktuellen Gemütszustand. Hier ergab sich ein Mix aus Emotionen, tendenziell eher negativer Art (was kaum verblüffen dürfte).
Bei der zweiten Frage ging es um die Auswirkungen der Krise, konkret in Bezug auf das L&D-Angebot. Der Großteil der Rückmeldungen bestätigt, was wir in den letzten Wochen in Blogs und Artikeln zu L&D gelesen haben: Das Face-to-Face-Lernangebot (F2F) wurde in allen Unternehmen von einem Tag auf den anderen eingestellt, und die L&D-Abteilungen wandeln ihr Angebot jetzt entweder in Online-Formate um oder warten auf das Ende der Krise, um dann das weitere Vorgehen festzulegen. Zahlreiche Experten sind jedoch der Ansicht, man werde bis auf Weiteres ohne F2F-Lernformate auskommen müssen – einerseits aufgrund von Reisebeschränkungen, andererseits wegen der verständlichen Scheu vor größeren Menschenansammlungen.
Als Letztes wurde danach gefragt, welche neuen L&D-Aktivitäten im Zuge der Krise vorrangig verfolgt werden. Vier Bereiche wurden von L&D-Verantwortlichen als neue Prioritäten ermittelt und von den Unternehmensführungen bestätigt:
- Unterstützung der Mitarbeiter bei der Telearbeit
- Schaffung eines Online-Angebots für die Gesundheit und das Wohlergehen der Mitarbeiter
- Entwicklung von Führungskräften, die in Krisenzeiten die Zügel in die Hand nehmen (Empathie, Führen aus der Ferne usw.)
- Berufliche Neuorientierung von Zielgruppen, beispielsweise Umschulung von Flugbegleitern zu medizinischem Hilfspersonal
Den Unternehmen ist es erstaunlich gut gelungen, ihr Lernangebot inhaltlich und methodisch (online) umzustellen. L&D-Experten haben große Widerstandsfähigkeit und Kreativität bewiesen und innerhalb kurzer Zeit neue digitale Programme für die Mitarbeiter auf die Beine gestellt. Dabei mussten sie sich ständig mit neuen Herausforderungen der Telearbeit auseinandersetzen: mit der Ungewissheit klarkommen, gesund bleiben, Homeschooling der Kinder organisieren, das Homeoffice richtig einrichten und über digitale Tools vernetzt bleiben.
Bei diesem kurzfristigen Angebot werden rein digitale Kanäle genutzt, einschließlich virtueller Klassenzimmer. Der reibungslose Zugang und die Geschwindigkeit sind dabei wichtiger als perfekt ausgearbeitete Lehrpläne. Die Nutzung digitaler Kommunikationstools im Lernprozess, wie Zoom, Microsoft Teams und WebEx, hat drastisch zugenommen. Entwicklungsprozesse wurden vereinfacht, die L&D-Einsatzteams haben dringend benötigte Programme für die Telearbeit und das Wohlergehen bereitgestellt. Die größte Hürde in den ersten Wochen der Umstellung war es, dass die meisten Mitarbeiter sich noch gar nicht im „Lernmodus“ befanden.
Mittel- und längerfristige Perspektiven für L&D
Jetzt, da ein kurzfristiges Online-Lernangebot verfügbar ist, gilt es, sich Gedanken darüber zu machen, wie das Lernen in Unternehmen in nächster Zeit aussehen soll. Kehren wir zur Lernform aus Vorkrisenzeiten zurück? Wie lassen sich Arbeitskräfte mittel- und langfristig am besten weiterbilden? Wie wirkt sich die Krise in Bezug auf Schwerpunkte, Budget, Ressourcen und Rahmenbedingungen auf L&D aus?
Anhand jüngerer Umfragen und Gespräche mit L&D-Managern haben wir uns ausgemalt, wie sich die derzeitige Situation mittel- und längerfristig auf die L&D-Welt auswirken wird. Unsere Vorstellungen bezeichnen wir als „das neue Lernzeitalter“.
Mit den Lockerungen versuchen nicht nur die Unternehmen, in den Alltag zurückzufinden – auch auf L&D trifft das zu. Fest steht: In jeder Branche sieht es anders aus. Selbstverständlich haben nicht alle in gleichem Maße unter der Krise gelitten. Einzelhandelsriesen wie Amazon und Walmart stellen über 100.000 neue Mitarbeiter ein, um die Kundennachfrage stillen zu können. Umgekehrt sind Fluggesellschaften und Tourismusunternehmen gezwungen, viele ihrer Beschäftigten zu entlassen. Zieht man beim Corporate Learning Lehren aus früheren Krisen, dürften finanziell angeschlagene Industrien die Auswirkungen wesentlich stärker spüren. Mittelfristig gilt es, neue L&D-Ziele, Prioritäten, zentrale Zielgruppen und Ressourcen neu zu definieren, dabei aber die dringend nötige Umschulung und Weiterbildung nicht aus den Augen zu verlieren (wie Andrew Dyer, Geschäftsführer von BCG, in seiner Artikelserie erläutert).
4 Schwerpunktbereiche
Man kann davon ausgehen, dass im neuen Lernzeitalter das L&D-Budget (mitunter drastisch) gekürzt wird. Verkompliziert wird das Ganze noch durch den wachsenden Druck, das L&D-Team zu verkleinern. Da Digital Learning ein wesentlicher Bestandteil des neuen Lernzeitalters ist, muss der L&D-Bereich, in enger Zusammenarbeit mit der IT-Abteilung, Wege finden, wie sich die Nutzung vorhandener Lerntechnologien optimieren lässt. Gleichzeitig gilt es, bei den Lernlösungen auf ein neues Konzept umzusteigen: mehr digitales Lernen und deutlich weniger Präsenzschulungen. Dank seiner Expertise und Agilität kann L&D diese Umstellung sicherlich meistern und neue Lösungen bereitstellen, die den Geschäftsbedürfnissen entsprechen. Während die Unternehmen versuchen, wieder auf die Beine zu kommen, ist es von zentraler Wichtigkeit, ob die Mitarbeiter Zeit zum Lernen haben und ob die Vorgesetzten ein lernförderliches Umfeld schaffen.
Längerfristig werden die Unternehmen sich ihre L&D-Ressourcen wohl genauer anschauen müssen, um auf andere Art mit weniger Mitteln mehr zu leisten. Aufgrund der Gespräche, die wir geführt haben, rechnen wir fest damit, dass L&D in 4 Schwerpunktbereichen aktiv wird:
- Integration von Lern- und Wissensmanagement: Da die Beschäftigten momentan wenig Zeit zum Lernen haben, ist es sinnvoll, den Zugang zu Wissenselementen und Lernmöglichkeiten (einschließlich Communitys) für den einzelnen Mitarbeiter einzubinden.
- „Learning in the flow of work“ und die Einbettung des arbeitsbegleitenden Lernens über viele Jahre hinweg (wie von Bob Mosher empfohlen). Die Dynamik dieser Krise bietet L&D die Chance, diese Einbettung zu beschleunigen und gleichzeitig eine höhere Lernwirkung zu erzielen.
- Neugestaltung des Lernökosystems: Da sich Tools zur Teamkommunikation in der Corporate-Learning-Landschaft durchsetzen, müssen Unternehmen ihre Lernumgebung neu ordnen. Dafür ist ein neues Ökosystem erforderlich, das alle relevanten Tools vereint, sodass formales und soziales Lernen sowie Lernen am Arbeitsplatz möglich sind.
- Selber machen oder kaufen? Höchstwahrscheinlich wird die Geschäftsleitung (erneut) die Frage aufwerfen, ob das Unternehmen nicht auf L&D verzichten kann. Diese Frage gilt es, auf zweierlei Weise zu beantworten: zum einen mit einer regulären Performanceanalyse, in der die L&D-Leistungen und deren Auswirkungen aufgeführt sind, zum anderen mit einem soliden Business Case, der den Mehrwert der Ressourcen und Fähigkeiten der L&D-Experten hervorhebt, sodass sämtliche Outsourcing-Überlegungen hinfällig werden.
Ist L&D also bereit für das „neue Zeitalter des Lernens“?
Wir alle haben die Krise zu spüren bekommen, in jedem Bereich unseres Lebens. Insofern ist es wichtig, dass wir uns ausreichend erholen, bevor wir mit Elan wieder ans Werk gehen. Zeitgleich müssen die L&D-Teams in den Unternehmen die Rahmenbedingungen und Auswirkungen des neuen Lernzeitalters eruieren. In den ersten Wochen der Krise haben sie Entschlossenheit und Leidenschaft bewiesen und dadurch eine gute Grundlage für den Erfolg geschaffen. Damit ist es jedoch nicht getan. Um für die Zukunft gewappnet zu sein, müssen sich die L&D-Teams an neue Gegebenheiten anpassen. Dazu gehört auch die Aneignung relevanter Digital-Learning-Kompetenzen, wie Qualifikationen im Bereich Blended Design und Datenanalyse. Darüber hinaus können eine Beratung zur Leistungssteigerung durch Lernen sowie eine solide Learning Governance dazu beitragen, die nötige Abstimmung mit Stakeholdern und deren Prioritäten sicherzustellen. Nur so lässt sich ein Ergebnis mit echtem Mehrwert erzielen.